Der Weg ins Leben (Teil 2)

So heißt der Zusatz des umfassendsten literarischen Werks „Ein pädagogisches Poem“ von Anton Semjonowitsch Makarenko (1888 – 1939). Das war ein ukrainisch-sowjetischer Pädagoge, der sein Poem 1935 fertiggestellt hatte. Die Ähnlichkeit seines Untertitels mit der Überschrift dieser Reihe „Mein Weg ins Leben“ ist nicht zufällig. Mich verbindet viel mit Makarenko. Deshalb muss ich die Grundzüge seines Denkens in dieser Folge darstellen, denn sie sind die Grundlage meines eigenen Suchens nach einer Schule, in der ich mich verwirklichen, meine Gedanken „auf die Welt bringen“ kann.

Makarenko war ein Visionär. Ich halte mich auch für einen. Was uns unterscheidet? Ihm gelang es, seine pädagogischen Vorstellungen in schwierigen Zeiten tatsächlich in die Realität umzusetzen. Mir gelang das nicht. Im familiären Rahmen schon eher, im schulischen weniger. Diesbezüglich gibt es bei mir einen gewaltigen Überhang an Träumereien, wie ich bereits in Teil 1 schrieb, im Vergleich zur tatsächlich gestalteten Praxis.

Darüber hinaus ist, glaube ich, unsere entscheidende Gemeinsamkeit trotz des unterschiedlichen Geburtsjahres und -Landes die Folgende: Wir „hassen“ beide – ich glaube, so ein kräftiges Wort ist hier angebracht (und leider kann Anton es aus dem Jenseits heraus nicht mehr bestätigen /1/) – das laue Mittelmaß, die angeblich „goldene Mitte“. Ein richtig großzügiges Offen-Sein beim Denken und zum Beispiel auch beim Feiern, eine richtig „schräg“ wilde Schuldisko, die von Jugendlichen selbst organisiert und gemanagt wird, einschließlich des Getränke- und Essensverkaufs, einerseits und „preußische“ Genauigkeit beim Einhalten von Umgangsformen, zum Beispiel Zeitexaktheit auf den Punkt, auch „Pünktlichkeit“ genannt, andererseits – diese beiden Seiten würden sich ausschließen, sagt der Zeitgeist, erstaunlicher Weise geographisch geweitet von Deutschland nach Russland bzw. die Ukraine und auch über die Zeiten gedehnt, von 1920, 30 bis 100 Jahre später.

Es solle von beiden Seiten nur ein „gutes (Mittel)Maß“ sein, man müsse sich vor Übertreibungen hüten, sowieso und in jedem Fall. Das ist dumm. Das bringt genau nur solche halben, „mittleren“ Charaktere hervor, von denen es hier nur so wimmelt. Beamtenseelen, die sicherheitshalber den Ball flach halten, um keinen Fehler und, vor allem, sich selbst nicht angreifbar zu machen.

Bei Makarenko war es so: Er hielt zum Beispiel im großen Saal der Kommune eine Rede vor den Kindern und Jugendlichen sowie seinen Mitarbeitern, weil er aufgrund von Ränken als Leiter der Gorkikolonie abberufen worden war. Beim Reden sah er, dass die vom „Chef vom Dienst“, einem jugendlichen Kommunarden, zur Reinigung eingeteilten Zöglinge, auf dem Klavier keinen Staub gewischt hatten. Makarenko unterbrach seine Rede und erteilte den „Schlawinern“, die geglaubt hatten, sich durchmogeln zu können, sachlich unaufgeregt sofort ein paar Stunden Strafdienst, um dann seine Rede fortzusetzen. /2/

Das meine ich: Immer voll und ganz hinter dem zu stehen, was einmal vereinbart worden war, im Guten wie im Schlechten und das nicht nur mit Worten, sondern vor allem mit schlichten, aber wirksamen Taten: Sehr streng sein und sehr „lieb“, zwar nacheinander und trotzdem nahe beieinander, vor allem im Sinne von sich gegenseitig durchschimmernd. Nicht eine laue Mischung ist die Lösung, eine Art Breitband-Medikament, sondern das eine richtig, voll und ganz zu tun, wenn und wann es angebracht ist, genauso wie das andere, das scheinbare Gegenteil und das doch auf eine Weise, dass beides zusammengehört.

Von Strenge, Konsequenz und Eindeutigkeit ist das Pendant nicht die Liebe und Zuneigung. Nein, das ist das gemeinsam Verbindende, denn man kann auch konsequent und „lieb“ sein. Das Pendant ist Lockerheit, Offenheit und Großzügigkeit, die Fähigkeit und der Wille, Ausnahmen zuzulassen, wenn die Regel gefestigt ist.

Anton Semjonowitsch, wie seine Jungen ihn nannten, spielte zum Beispiel oft abends mit ihnen zusammen im Schlafsaal Pfänderspiele zuweilen mit Schlägen auf die Finger, aber „ohne Küsse“. Da war er einer von ihnen und zugleich und andererseits blieb er der Chef, beides richtig und nicht nur ein bisschen.

Junge Menschen, die sich mit voller Kraft für die Gemeinschaft einsetzen, der sie sich zugehörig fühlen, für ihre Familie, ihre Schule, ihre Firma, ihre Stadt, ihre Region und ihre Nation /3/, werden von diesen Gemeinschaften geschützt und getragen. Weil sie das wissen, können sie mutig sein. Ein Fehler, der ihnen im Eifer, etwas Gutes für die Gemeinschaft zu schaffen, unterläuft, wird ihnen immer verziehen. /4/ Sich aber persönliche Vorteile auf Kosten der Gemeinschaft verschaffen zu wollen, wird streng bestraft, wobei mit der Strafe und dem zugehörigen Auswertungsgespräch das Fehlverhalten dann aber auch vergessen ist und das Leben wieder von vorn beginnen kann, außer bei schwerwiegenden Vergehen wie Kameradendiebstahl und Betrug gegenüber den offiziellen Organen der Kommune. Da ist dann nur ein Fehltritt möglich. Nach dem zweiten Mal „flog“ der Wiederholungstäter unweigerlich aus der Kommune. Er musste sich dann darum bemühen, in einer anderen Einrichtung unterzukommen.

Dass die pädagogischen Beamten der Jetzt-Zeit über diese Konsequenz wieder nur ihr weises Haupt schütteln und etwas davon erzählen werden, wie wichtig ewige Geduld und ewiges Verzeihen bei der Erziehung sind, zeigt mir wieder, wie unmutige, lasche Halbheiten pädagogisch dumm machen. Ein Jugendlicher aus der Kommune, der kein Semerster Pädagogik studiert hat und auch nicht Soziologie oder Psychologie,  muss es den Herren Pädagogen, die zur Konfliktbewältigung angereist kamen, erklären:

„…’Natürlich werden wir mit ihm [dem Dieb] fertig. Wir fürchten uns nicht; aber darum geht es uns gar nicht. Wir werden gerade darum mit ihm fertig, weil wir ihn verjagen können. Wenn wir ihn nun nicht verjagen und einen anderen danach auch nicht hinauswerfen, dann verliert unser Kollektiv seine Kraft und wird mit keinem mehr fertig. Wir jagen ihn fort; wir haben noch 70 Mann seiner Art [von insgesamt 600] und werden mit ihnen zurechtkommen, gerade deswegen, weil wir ihn fortjagen!'“ (A.S. Makarenko, Werke, Volk und Wissen, Bd. 5, S. 148f.)

So einfach und so logisch. Je länger einer studiert hat, desto weniger kann er das offenbar begreifen /5/. Insgesamt geht es darum, zu verstehen, dass eine gute persönliche Einfühlungsbereitschaft in die Probleme Einzelner klare sachliche Strukturen voraussetzt, sonst verbrauchen sich die Einfühlungsbereiten, brennen sie aus. Ein Beispiel:

Ein Schüler stört den Unterricht. Er wird freundlich ermahnt, weil Abweichungen zur menschlichen Natur gehören.

Er stört zum 2. Mal: Er wird ernsthaft ermahnt und zum letzten Mal gewarnt.

Er stört wieder: Er „fliegt“ aus dem Unterricht in einen „Besinnungsraum“, wo ein anderer Pädagoge wartet, der ihn eine schriftliche Stellungnahme verfassen lässt. Ihr Fokus soll dabei auf den Eigenanteilen des Schülers liegen. Die Schuld bei anderen zu suchen, können Menschen von allein. Die Eigenanteile zu erkennen, die zu einem Problem führten, dabei brauchen sie Hilfe. Die Schüler sind interessiert daran, ihren Eigenanteil in der schriftlichen Stellungnahme zu erfassen, weil nur dann ihre „Besinnungspause“ beendet ist und je länger sie dem Unterricht fernbleiben, desto mehr haben sie nachzuarbeiten. (Es geht, wie ich schon mehrmals erwähnte, darum, in die pädagogische Offensive zu kommen.)

Danach kann der betroffene Lehrer, der gestört wurde, ein einfühlsames Gespräch führen, das tatsächlich weiter führen kann.

Vergleiche diesen Teil der Reihe „Mein Weg ins Leben“ zu Makarenko auch insgesamt mit meinem Kommentar zu Scheißdemokratie.

 

Fußnoten

/1/ Ich hoffe, im Laufe der Teile dieser Reihe, seine philosophisch-pädagogischen Positionen so darzustellen, dass meine Interpretationen seiner Worte und Taten aus sich heraus plausibel werden.

/2/ „Zöglinge“ waren die Kinder und Jugendlichen, die von der Vollversammlung der bereits berufenen „Kommunarden“ und der pädagogischen Mitarbeiter der Kommune, noch nicht in den Stand der Kommunarden erhoben worden waren. Das waren sozusagen keine Rekruten mehr, sondern so etwas wie „Gefreite“ oder „Geweihte“, die sich bereits bewährt hatten. Ihnen durfte kein Strafdienst, hauswirtschaftliche Arbeiten aller Art, auferlegt werden, sondern nur „Arrest“, allerdings nicht im „Karzer“, sozusagen hinter Gittern, sondern im Arbeitszimmer Makarenkos, wo sie die auferlegten Stunden zu verweilen hatten und dabei alles mitbekamen, was im Zentrum der Kommune geschah. Sie mussten selbst auf die Uhr gucken und Makarenko mitteilen, wann die Arrestzeit vorbei ist.

/3/ Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass „Europa“ und die „Erde“ als Identifikationseinheiten zu groß sind. Was wir lieben können wollen, muss konkret sein; wir können uns nur an etwas binden, was überschaubar und begrenzt ist. (Siehe vor allem die Fußnote 1 von die Grundfrage der Erziehung)

/4/ In solchen Zusammenhängen fällt mir immer wieder Goethes schöne Resümee am Ende von Faust II ein: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

/5/ Das ist eine Logik, die auch angewendet werden kann auf Zuwanderer, die die deutsche Gesellschaft aufgenommen hat. Wer schwer kriminell wird, fliegt, ebenso bei leichteren Straftaten, die sich zum 2. Mal wiederholen. Gerade weil die Straftäter konsequent „fliegen“, könnten wir mit den anderen gut zurechtkommen. Aber das wollen unsere Eliten nicht. Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg.

4 Kommentare zu “Der Weg ins Leben (Teil 2)”

  1. Karl sagt:

    Da muss und will ich mich hier noch selbst ergänzen in Bezug darauf, was Makarenkos Pädagogik von der anderer unterscheidet. Neben dem Erwähnten ist es das Folgende: Makarenkos Blick auf die Erziehung ist großteilig, für ihn ist ein Kollektiv die Gesamtheit der Schüler und Mitarbeiter einer Schule.

    Eine Klasse ist für ihn ein Grundkollektiv bzw. besteht sie aus mehreren Grundkollektiven („Brigaden“), die jeweils 7 bis 12 Mitglieder haben. Damit ahnte Makarenko intuitiv voraus, was die Sozialpsychologie später festgestellt hatte: für Grundkollektive ist diese Mitgliederzahl ideal, damit sie einerseits nicht gefährdet sind, sich in weitere Teilkollektive zu spalten und andererseits groß genug, um eine Gruppendynamik zu entfalten.

    Wichtiger noch ist der Gedanke, dass erst verschiedene Grundkollektive, vor allem altersmäßig unterschiedliche zu einer Großgruppendynamik in einer ganzen Schule oder Kommune führen. Die Großgruppe hat über die verschiedenen Klassen bzw. Brigaden hinweg gemeinsame Werte und Normen, die in schuleinheitlichen Ritualen praktiziert werden.

    Dieser Blick geht noch größer in Bezug auf alle Schulen einer Nation. Auch diese eint gemeinsame Werte und Normen. Es muss aber ein besonderes Geneinsames bzw. Übergreifendes geben und das findet sich in den Tratitionen und Zeremonien, die sich als das Eigentümliche der einzelnen Schulen herausgebildet haben. In so einer Schulgruppe achten die Großen auf die Kleinen und im schulinternen Wettbewerb und Austausch bekommen die Grundkolkektive die Impulse für ihr Wachstum, die sie brauchen.

    Der kleinteilige westliche Blick nur auf ein Klassenraum-Managment (Jacob S. Kounin) greift viel zu kurz. Lehrer sind immer wieder gefährdet, nur ihre eigene Klasse zu sehen und dann mühsam das „Erziehungsrad“ für jede Klasse neu zu erfinden. Das ist ähnlich beschränkt wie nur auf die Instruktionen der Pädagogen, der „Gruppenleiter“ sozusagen, zu vertrauen und nicht die große Bedeutung der Wechselwirkungen zwischen den Gruppenmitgliedern zu sehen und zu fördern.

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